„Unser größtes Hindernis ist, dass wir unsere eigene Stärke nicht kennen.“ Es ist dieser Satz, der sich mir beim Lesen der 348 Seiten des vom Crimethinc.-Kollektiv veröffentlichten Buches „Writings on the wall“ besonders intensiv ins Bewusstsein eingebrannt hat. Zwar sind wir fest davon überzeugt, uns auf der menschenwürdigen und damit der moralisch richtigen Seite sozialer Kämpfe zu verorten. Allerdings weicht unser Tatendrang, die damit verbundenen Ideen und Ideale auch in die Praxis zu überführen oftmals einem lähmenden Ohnmachtsgefühl, wenn wir uns die komplexen Rahmenbedingungen kapitalistischer Gesellschaften oder die Vielzahl an übermächtig erscheinenden Gegner_innen vor Augen führen.

Seit vielen Jahren versucht das aus der Hardcore- und Anarcho-Punk-Szene stammende Crimethinc.-Kollektiv auf ebenso alltagsbezogene wie auch niedrigschwellige Weise Wege aufzuzeigen, wie eben jenes Ohnmachtsgefühl gebrochen werden kann, um die Machtverhältnisse und Unterdrückungs-mechanismen unserer Lebensumstände zu hinterfragen, zu kritisieren, anzugreifen und zu verändern. Da sich diese Verhältnisse und Mechanismen angesichts des globalisierten Kapitalismus in vielen Ländern der Welt ähneln oder sogar gleichen, konzentriert sich Engagement des Kollektivs zwar auf dessen nordamerikanische Herkunftsregion, wirft aber auch stets einen aufmerksamen Blick auf internationale Geschehnisse, um Kontakte zu Gleichgesinnten auf der ganzen Welt aufzubauen. So haben sie „Netzwerke aufgebaut, die sich über fünf Kontinente und Dutzende von Sprachen erstrecken. Gemeinsam versuchen wir, die strategischen Fragen, vor denen wir stehen, zu durchdenken und unsere Erfahrungen in verschiedenen Kämpfen und Kontexten zu vergleichen, um neue Vorschläge für den Einsatz in sozialen Bewegungen zu formulieren. Wie die globale anarchistische Bewegung als Ganzes haben wir keine Parteilinie, sondern nur die intellektuelle Vielfalt der Debatte und die gemeinsame Entschlossenheit, eine Welt zu schaffen, in der kein Mensch einen anderen regieren kann. (...) Dieses Buch enthält unsere Reflexionen über die Kämpfe, an denen wir in den letzten zehn Jahren teilgenommen haben – unsere Bemühungen, aus unseren Erfolgen und Misserfolgen zu lernen, das wahre Problem an der Wurzel jeder Situation zu erkennen und unser enormes Potenzial zu unseren eigenen Bedingungen bestmöglich zu nutzen. Möge es dir bei deinen Bemühungen, dasselbe zu tun, hilfreich sein.“

Vielfalt und Reflexion sind zentrale Schlüsselbegriffe des vorangegangenen, den Buchinhalt grob zusammenfassenden Zitats. Seit jeher erweisen sich die von Crimethinc. veröffentlichten Texte als ausgesprochen undogmatisch, da besagtem Kollektiv von Anfang an bewusst war, dass wir uns mit vielen verschiedenartigen sozialen wie auch politischen Kämpfen konfrontiert sehen, die hinsichtlich des Schlüsselbegriffs der Vielfalt einen flexiblen Facettenreichtum an Ideen, Zielen und dementsprechenden Methoden erfordern – sei es im Umgang mit Polizeigewalt, dem Klimawandel oder dem im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie intensivierten Auseinanderklaffen der Gesellschaft in arm und reich.

Um diese Vielfalt ausleben und in die alltägliche Praxis übertragen zu können, bedarf es laut Crimethinc. sozialer Assoziationen und horizontaler Netzwerke, die allerdings keine Forderungen – so beispielsweise gegenüber verantwortlichen Politiker_innen – stellen, sondern eigene Ziele aufstellen und diese auch selbstständig umsetzen. Problematisch kann die Umsetzung dieser Ziele jedoch dann werden, wenn besagte Netzwerke verschiedene Gruppen zusammenführen, die unterschiedliche methodische Praktiken bevorzugen. Crimethinc. schreibt dazu, dass „[w]ir, die wir für eine freiere Welt kämpfen, (...) uns einem fundamentalen Widerspruch gegenüber[sehen]. Einerseits wollen wir keine Avantgarde werden, die anderen ihren Willen aufdrückt oder sie ,anführt’, da das unseren antiautoritären Werten widersprechen würde. Andererseits haben wir die begründete Annahme, dass unsere politischen Zielen – einschließlich der Zerstörung des Kapitalismus, des Staates und der Hierarchien – nicht ohne Strategien erreicht werden können, die den meisten unserer Mitbürger*innen derzeit nicht gefallen.“ Sollte es unter diesen Umständen dazu kommen, dass ein kompromisshafter Konsens hinsichtlich akzeptabler und vermeintlich inakzeptabler Aktionsformen im Netzwerk geschlossen wird, kann dies Gruppen in ihrer Handlungsfreiheit einschränken. Die Folge wäre, dass sich diese Gruppen letztendlich nicht mehr mit dem Netzwerk identifizieren können und sich wieder davon entfernen, wodurch der Zusammenschluss gänzlich auseinanderbrechen könnte.

Um dies zu verhindern, setzen sich Crimethinc. kritisch mit dem Konsensprinzip auseinander, wobei sie dazu erklärend ausführen, „dass wir den Konflikt unbeirrt als Realität anerkennen müssen. Die Vision, die wir vorlegen, zielt nicht nur darauf ab, eine Welt zu schaffen, in der alles einvernehmlich ist. Wir bemühen uns, der Zustimmung der anderen so weit wie möglich Vorrang einzuräumen, wobei wir uns bewusst sind, dass wir uns manchmal wirklich in einem Konflikt befinden.

Wir müssen Konflikte anerkennen, anstatt sie unter den Teppich eines aufgezwungenen Konsenses zu kehren. Unser Ideal ist nicht eine Welt ohne Konflikte, sondern eine Welt, in der Konflikte nicht zu Hierarchien und Unterdrückung führen.“ Daran anknüpfend werfen sie die Frage auf, „[u]nter welchen Bedingungen (...) wir in die Lage [geraten], diese Systeme [der Verarmung von Millionen von Menschen und der Zerstörung unserer Ökosysteme] infrage zu stellen, ohne auf die autoritären Mittel zurückzugreifen, die wir verurteilen.“

Wichtig ist es laut Crimethinc. hierbei, die angestrebten Ziele und vor allem die dafür eingesetzten Mittel mit den eigenen moralischen Ansprüchen in Einklang zu bringen. Dieser Einklang bedarf es einer permanenten und kritischen Selbstreflexion, dass beabsichtigte Ziele und angewandte Strategien möglichst deckungsgleich sind, um durch das eigene Handeln nicht irgendwann selbst Hierarchie und Unterdrückung zu reproduzieren. 

Unter Berücksichtigung dieser kritischen Selbstreflexion befürworten Crimethinc. nicht nur eine thematische, sondern auch eine methodische Vielfalt. Aktionen können demzufolge nicht nur ausschließlich pazifistisch oder militant sein, sondern die Vorteile beider Vorgehensweise miteinander vereinen. So können klandestine Kleingruppenaktionen große Massenproteste supporten und umgekehrt. Nicht minder wichtig ist es, sowohl durch wirkungsmächtige öffentlichkeitswirksame Aktionen nach außen zu wirken, als auch gleichzeitig intern den Aufbau und Erhalt eigener Strukturen, das Setzen neuer Ziele oder die nachhaltige Klärung von Konflikten in den eigenen Reihen nicht zu vernachlässigen.

Um die Vielfalt möglicher Aktionsformen zu verdeutlichen, greifen Crimethinc. in ihren Texten beispielhaft auf verschiedene Ereignisse wie die Pariser Kommune von 1871, den schon viele Jahrzehnte andauernden kurdischen Freiheitskampf, oder den Mord an George Floyd im Jahre 2020 sowie die dadurch ausgelöste Belagerung des dritten Polizeireviers in Minneapolis zurück. Manche dieser historischen Bezugspunkte – so beispielsweise der kurdische Freiheitskampf – werden noch einmal überblicksartig zusammengefasst, während das Wissen um andere Ereignisse wie das über die Pariser Kommune als Grundlagenwissen vorausgesetzt wird. Folglich richten sich manche der Kapitel auf inhaltlicher Ebene eher an diejenigen, die mit der Geschichte, den Ideen und den Praktiken des Anarchismus bereits vertraut sind, um gerade jene Ideen und Praktiken neu und weiter zu denken. Andere Texte wiederum – allen voran der Einleitungstext „Alles verändern“ – sind inhaltlich niedrigschwelliger konzipiert und richten sich dementsprechend vor allem an jene Interessierten, die erst damit beginnen, in die wunderbare Gedanken- und Lebenswelt des Anarchismus einzutauchen.

In diesem Kontext schreiben Crimethinc., dass „Anarchismus (...) ein Vorschlag für jede*n [ist], wie wir unsere Leben verbessern können – für alle Angestellten und Arbeitslosen, Menschen aller ,Ethnien’, Gender, Nationalitäten und für alle, die in keiner dieser Kategorien vertreten sind; ein Vorschlag für Arme und Milliardär*innen gleichermaßen. Der anarchistische Vorschlag ist nicht im Interesse einer momentan existierenden Gruppe gegen eine andere: er ist kein Weg, die Armen auf Kosten der Reichen zu bereichern oder einer ,Ethnie’, Nationalität oder Religion auf Kosten anderer mehr Macht zu geben. Diese ganze Art zu denken, ist Teil dessen, aus dem wir auszubrechen versuchen. All die ,Interessen’, die vermeintlich unterschiedliche Kategorien von Menschen ausmachen, sind Produkte der bestehenden Ordnung und müssen mit ihr transformiert werden, nicht erhalten oder begünstigt.“

Unter Rückgriff auf das Zitat, mit dem ich diese Buchvorstellung eingeleitet habe, verweisen Crimethinc. darauf, dass wir uns zur Durchführung dieses langwierigen und schwierigen Transformationsprozesses der bestehenden Ordnung unserer eigenen Stärke bewusst sein müssen: „Als Anarchist*innen liegt unsere größte Stärke nicht in der Einheitlichkeit und Vernunft unserer Ideologie, sondern in den leidenschaftlichen Aktionen, die wir unternehmen, und in dem unregierbaren Leben, das wir führen. Versuchen wir nicht, die Menschen zum Anarchismus zu bekehren, machen wir uns mit schelmischer Freude daran, alle um uns herum mit der Anarchie, die in unseren Adern fließt, anzustecken. Schaffen wir Situationen, in denen Anarchie möglich, ja sogar wünschenswert ist für diejenigen, die heute vielleicht keine Neigung dazu verspüren.“

Der in diesem Auszug anklingende Enthusiasmus zieht sich wie ein schwarz-roter Faden durch die insgesamt 17 Kapitel von „Writings on the wall“, ohne sich dabei unkritisch in allzu utopischen Illusionen zu verrennen oder den Bezug zur alltäglichen Realität zu verlieren, wobei letzteres allein schon am einfach und verständlich gehaltenen Schreibstil deutlich wird. Folglich motiviert die Lektüre dieses Buches, aktiv zu werden, Machtstrukturen und hierarchische Verhältnisse – auch im eigenen Denken und Handeln sowie in den eigenen Reihen – zu kritisieren, anzugreifen und aufzubrechen. „Writings on the wall“ gibt Anregungen und wirft viele Fragen auf, um über sich selbst, die uns umgebende Welt und das eigene Dasein in eben dieser Welt nachzudenken, um sich auf der Grundlage der daraus gewonnenen Erkenntnisse der eigenen Stärke und der damit einhergehende Handlungsfähigkeit (wieder) bewusst zu werden. 

 

Weiterführende Informationen:

Crimethinc.: Writings on the wall, Münster 2020, ca. 18,- Euro.